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Er betrat den Raum erst, nachdem er auf sein leises Klop-fen hin hineingebeten wurde. Dann blieb er respektvoll an der Tür stehen und wartete, bis er angesprochen wurde. Der Mann hinter dem wuchtigen Schreibtisch ließ sich einen Moment Zeit und beachtete den jungen Mann nicht, der mit vor dem Körper verschränkten Armen am anderen Ende des Raumes stand. Das Büro wurde von schweren Möbeln dominiert und nur durch die Schreibtischlampe beleuchtet. Die Schatten nah-men jede Bewegung des sitzenden Mannes auf und vergrö-ßerten sie grotesk. »Ja?«Der ältere Mann am Schreibtisch sah nicht auf, als er sei-nen Mitarbeiter knapp ansprach. Der muskulöse Mann an der Tür wusste, dass dies keine Aufforderung war, näher zu treten. Sein Job bestand lediglich darin, seinem Chef Be-richt zu erstatten, und das tat er ungerührt. »Die Ware wird im Laufe der Nacht eintreffen.«»Ist alles vorbereitet?«»Ja. Kurz bevor der Fahrer die Spedition erreicht, wird er uns informieren. Unsere Leute werden bereitstehen und die Ware in Empfang nehmen.«»Wie viele sind es dieses Mal?«»Zwölf.«»Qualität?«
»Zum Teil recht gut. Die Besten behalten wir, der Rest wird verteilt.«»Gut.« Der ältere Mann hinter dem Tisch legte seinen Stift beiseite und sah das erste Mal auf. Er betrachtete den jun-gen Mann, der nicht nur seine rechte Hand, sondern auch sein Bodyguard war. »Gibt es noch etwas?« Der junge Mann zögerte. Er hasste es, seinem Chef unan-genehme Nachrichten zu überbringen. »Der Schnüffler lässt nicht locker.«»Hat er zu jemandem Kontakt aufgenommen?«»Wir sind uns nicht sicher. Er hat telefoniert und für mor-gen Abend eine Verabredung getroffen.«»Mit wem?« Der ältere Mann runzelte die Stirn. »Das wissen wir nicht. Er hat keinen Namen genannt. Er will sich mit der betreffenden Person jedenfalls morgen in einem Musical treffen. ›Der König der Löwen‹.«»Ein schönes Stück. Ich habe es gesehen. Sie auch, Matthias?« Er fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Beobachten Sie ihn weiterhin und finden Sie heraus, mit wem er sich trifft. Dann erledigen Sie beide.« Der junge Mann, den er mit Matthias angesprochen hatte, verneigte sich knapp und schickte sich an zu gehen, als ihn die Stimme seines Chefs zurückhielt. »Nein, warten Sie. Wenn Sie wissen, wer seine Kontaktper-son ist, rufen Sie mich erst an.«Matthias nickte, obwohl sich der ältere Mann wieder seinen Akten auf dem Schreibtisch zugewandt hatte. Als er den Raum verließ, glaubte er, seinen Chef die Eröffnungsmelo-die von ›Der König der Löwen‹summen zu hören.
Zitternd hatte sie den Hörer aufgelegt. Nun gab es kein Zu-rück mehr, obwohl sie an einem Punkt angelangt war, an dem sie lieber einen Rückzieher gemacht hätte, aber dafür war es nun zu spät. Es gab nichts mehr, was sie hätte tun können, und dies war die einzige Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, dass sie nicht alle Kontakte von früher abgebrochen hätte. Sie fühlte sich schrecklich allein. Es gab niemanden, dem sie sich hätte an-vertrauen können. Vielleicht hätte sie einfach die Augen vor den Aktivitäten ihres Mannes verschließen sollen, so wie es andere Frauen auch taten. Aber das konnte sie nicht. Das hieße, sich endgültig zu verkaufen. Nicht das bequeme Leben hatte sie damals gelockt, zumindest nicht nur, son-dern die Liebe dieses Mannes, der so viel Charisma hatte. Er hatte um sie geworben, und das hatte ihr imponiert. Als sie ihn näher kennenlernte, war aus Bewunderung Liebe ge-worden, und als er sie schließlich bat, ihn zu heiraten, hatte sie nicht eine Sekunde gezögert. Sie hatte alles aufgegeben, ohne Bedauern, aber heute kam sie sich vor wie ein Möbel-stück, das sein Besitzer irgendwann auf den Speicher stellt. Schon lange hatte er kein Interesse mehr an ihr gezeigt. Nach nur sechs Jahren Ehe hatten sich ihre Kontakte auf ein Minimum reduziert. Er überwies ihr regelmäßig Geld, und sie gab es aus. Schnell hatte sie erkannt, dass er nur ein schönes und intelligentes Anhängsel brauchte, und das hatte er mit ihr bekommen. Nein, sie schüttelte den Kopf. Er hatte es nicht einfach bekommen, er hatte es gekauft. Er hatte sie gekauft.
Johanna blickte zum wiederholten Male auf das Ziffer-blatt ihrer Uhr. Das Zimmer lag im Halbdunkel. Die ein-zige Lichtquelle befand sich direkt neben ihr und war kaum mehr als ein schwacher Lichtschein. Die Geräte, die um das Bett ihrer Mutter herum aufgebaut waren und zum Teil rhythmisch piepten, spendeten ein diffuses, unwirkliches Licht. Sie warf einen kurzen Blick auf die ältere Frau. Die schmale Gestalt unter der Bettdecke wirkte klein und zerbrechlich, das Gesicht blass. Die Haare, sonst immer so perfekt fri-siert, waren ungekämmt und strähnig. Eigentlich hatte sie keine Ahnung, warum sie überhaupt hier war. Ihre Mutter war bewusstlos und nahm wahr-scheinlich gar nicht wahr, wer sie besuchte. Sie wäre auch gar nicht hier, wenn ihr Onkel sie nicht angerufen hätte.
»Johanna, deine Mutter ist im Krankenhaus.«»Ach?« Eher gelangweilt hatte sie diese Nachricht aufge-nommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre es eines der eingebildeten Leiden ihrer Mutter, mit denen sie immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen wusste. »Sie ist vor vier Tagen aus Spanien zurückgekommen und hatte in ihrer Wohnung einen Herzanfall. Ihre Putzfrau hat sie gefunden.«»Und? Wie geht es ihr?« Johanna hatte die Frage in ers-ter Linie deshalb gestellt, weil ihr Onkel sie von ihr erwar-tete. »Nicht besonders gut. Die Ärzte haben sie gestern operiert. Sie hat drei Bypässe bekommen.«
»Und vorher hat sie dir das Versprechen abgenommen, mich nicht zu informieren, richtig?« Johanna hatte zu ih-ren eigenen Worten genickt. »Nein, Johanna, das hat sie nicht«, Onkel Winfried hatte geduldig gesprochen wie zu einem kleinen ungezogenen Kind. »Johanna, sie hatte Angst, und du solltest vielleicht besser zu ihr.«»Oh bitte, Onkel Winnie. Wenn meine Mutter eines nicht hat, dann ist es Angst.«»Sie ist die Witwe meines Bruders, und sie ist immer noch deine Mutter. Also bitte tu mir den Gefallen und fahr hin, okay?«Johanna hatte geseufzt. Er hatte ja recht. Gerda Jensen war ihre Mutter. Sie musste an das Krankenbett eilen, auch wenn es weder ihrer Mutter noch ihr selbst etwas bedeu-tete. Mitunter fragte sie sich, woher diese Kälte kam. Nach allem, was ihre Mutter in den Herzen ihrer Familie ange-richtet hatte, so war sie doch noch immer die Frau, die sie auf die Welt gebracht hatte. Und trotzdem fiel es Johanna schwer, so etwas wie zärtliche Gefühle für diese Frau auf-zubringen. Zu viel war zerbrochen, zu viele Illusionen ge-raubt, zu viel Schmerz zugefügt worden, als dass Johanna noch irgendetwas empfinden konnte. Außer Gleichgültigkeit. »Also, gut. Wo liegt sie?« Sie hatte einen Stift und einen Zettel genommen und den Namen des Krankenhauses auf-geschrieben.
»Frau Dr. Jensen?«Johanna fuhr herum. Sie hatte nicht gehört, dass hinter ihr jemand das Zimmer betreten hatte. »Ja?«Der Mann in der blauen Krankenhauskluft, der im Türrah-men stand, lächelte sie freundlich an. Er kam mit ausge-streckter Hand auf sie zu. »Mein Name ist Witt. Ich habe Ihre Mutter operiert.«Sie hatte immer gedacht, dass die Ärzte weiße Kittel tru-gen. Hier, auf der Intensivstation, trugen alle sackartige blaue Hemden mit passenden Hosen. Sie schüttelte ihm die Hand und erwiderte sein Lächeln. Dr. Witt warf einen kurzen Blick auf die Apparaturen, die Gerda Jensen am Leben hielten, und wandte sich dann wie-der Johanna zu. »Ich wollte nur kurz mit Ihnen sprechen. Begleiten Sie mich auf den Flur?«Johanna nickte. »Sicher.« Sie folgte ihm hinaus, und beide blieben vor der breiten ge-öffneten Tür des Krankenzimmers stehen. Der Flur war hell erleuchtet und wurde beherrscht von einem breiten Tresen, der eher in ein Hotel zu gehören schien als in ein Krankenhaus. Unter der Theke standen Monitore, die die Vitalfunktio-nen der Patienten überwachten und bei dem geringsten Problem Alarm gaben. Krankenschwestern eilten hin und her, maßen bei den Pa-tienten Blutdruck, wechselten Infusionsflaschen aus oder zogen einfach nur die Decken glatt.
Hier draußen auf dem Flur herrschte eine fast heitere Stim-mung, nicht zuletzt ausgelöst durch verhaltenes Gelächter, das aus der Teeküche im hinteren Teil des Flures drang. »Also.« Dr. Witt legte die Handflächen aneinander und be-mühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. Trotzdem er-kannte Johanna die Müdigkeit in seinen Augen. »Zunächst einmal: Sie müssen sich keine Sorgen um Ihre Mutter machen. Sie hatte nach einer KHK einen Infarkt. Bei einer Koronarangiographie stellten wir drei Stenosen fest, aufgrund deren ihre Mutter dann einen dreifachen ACVB bekommen hat. Derzeit sieht es so aus …«»Halt.« Johanna hatte die Hände abwehrend erhoben, als wolle sie nicht den Redeschwall eines Arztes, sondern ei-nen herannahenden Bus stoppen. »Das sind für mich böh-mische Dörfer. Vielleicht könnten Sie mir das Ganze noch einmal in einfachen Worten erklären.«Dr. Witt sah sie erstaunt an. »Aber ich dachte … Sie sind doch … Ich meine, Dr. Jensen?«Johanna lächelte ihn freundlich an. »Sie, Herr Dr. Witt, re-parieren Herzen, ich für meinen Teil helfe, die Seele zu fli-cken. Ich bin Psychologin«, setzte sie hinzu. Witt lächelte, und nun, da er wusste, dass er keine Kollegin vor sich hatte, schlich sich eine Spur von Überheblichkeit in seinen Blick. »Tut mir leid, dann muss sich das Ganze für Sie unverständlich angehört haben. Also, Ihre Mutter hatte einen Herzinfarkt aufgrund verstopfter Herzkranzgefäße. Wir haben drei Bypässe gelegt. Wissen Sie, was das ist?«Johanna nickte. »Werden da nicht Venen aus den Unter-schenkeln entnommen, die dann am Herzen eingesetzt
werden, um die Funktion der erkrankten Gefäße zu über-nehmen?«Der Arzt nickte. »Korrekt. Es geht ihr den Umständen ent-sprechend gut. In ein paar Tagen wird sie auf die normale Station verlegt. Nach einer Reha wird sie bald wieder die Alte sein.«Daran zweifle ich nicht, dachte Johanna grimmig. Ein peinliches Schweigen trat ein. Dr. Witt musterte Jo-hanna irritiert. Vermutlich wurde er in ähnlichen Situa-tionen von den Angehörigen mit Fragen überhäuft und konnte sich Johannas Gelassenheit nicht erklären. Er be-schloss offenbar, ihr auf die Sprünge zu helfen. »Haben Sie noch Fragen?«Johanna schüttelte den Kopf. »Im Moment nicht. Ich danke Ihnen vielmals.«Sie ließ den Arzt verwirrt stehen und betrat wieder das Zimmer ihrer Mutter. Sie lag genauso da, wie Johanna sie ein paar Minuten zuvor zurückgelassen hatte. Johanna nahm ihre Tasche und ging. Als sie vor dem Eingang des Krankenhauses stand, holte sie tief Luft. Sie fragte sich, ob ihre Mutter überleben und was sie selbst dabei empfinden würde. Sie wusste es nicht.
Eigentlich sollten sie Streife fahren, aber irgendwann, so ge-gen drei Uhr morgens, nahmen sie sich eine kleine Auszeit
und stellten sich an die Elbe. Der Streifenwagen stand mit abgeblendeten Scheinwerfern auf dem Wanderweg ober-halb des Wassers, und die beiden Insassen starrten müde auf den Fluss, der zäh wie Öl dahinfloss. Um sie herum herrschte jene Stille, die mit der Dunkelheit einherging und etwas Unwirkliches an sich hatte. Die beiden Beamten nah-men diese Stimmung nicht wahr, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Der ältere der beiden unterbrach als Erster die Stille. »Und. Ulli, wie läuft’s mit Sabine?«Ulli zuckte mit den Schultern. »Wie soll es schon laufen? Sie will unbedingt heiraten. Hab’ ich aber irgendwie keinen Bock drauf.«»Mensch, Junge, fass dir ein Herz und frag sie. Is’ nie ver-kehrt.«Ulli lachte leise in sich hinein. »Das sagst ausgerechnet du, Didi. Du bist mittlerweile zum dritten Mal verheiratet.«Der Ältere fiel in das Gelächter seines jungen Kollegen ein. »Sach ich doch. Is’ nie verkehrt.«Beide kicherten noch ein wenig vor sich hin und verstumm-ten dann wieder, bis Ulli aus den Augenwinkeln eine Be-wegung wahrnahm. Er blickte aus dem Seitenfenster und stieß seinen Kollegen an. »Kuck mal, Didi, da hat einer aber schwer geladen.«Beide sahen aus dem Dunkeln eine Person auftauchen, die augenscheinlich betrunken war. Zumindest ließ der Gang darauf schließen. Als der vermeintlich Betrunkene näher kam, erkannten sie die Silhouette einer Frau. »Mensch, mich laust der Affe. Das is’ ’ne Frau. Mann, ich
hasse besoffene Weiber.« Ulli wandte sich angeekelt ab. Didi sah etwas genauer hin. Die Frau hatte lange blonde Haare und war für die Jahreszeit, es war immerhin erst Februar, viel zu dünn angezogen. Sie trug einen leichten Mantel, der vorne offen war. Außerdem hinkte sie. Den Kopf hielt sie gesenkt. Sogleich erwachte in ihm der Ordnungshüter. »Komm schon, die sehen wir uns mal genauer an. Die braucht Hilfe, so wie’s aussieht.« Widerstrebend stieg der Jüngere aus und näherte sich der Frau. Didi folgte langsam. Ulli setzte ein überhebliches Lächeln auf. »Na, Mutti, einen zu viel gesoffen? Dann komm ma’ mit. Wir bring’n dich nach Hause.« Er fasste sie am Arm, und die Frau blieb stehen, ohne den Blick zu heben. Ulli be-merkte, dass die Frau schmutzig war, und betrachtete sie genauer. Sie hielt etwas in der rechten Hand. Als er näher hinsah, erkannte er ein großes Messer. Er schreckte zurück, kam ins Stolpern und stürzte. Noch während er sich auf-rappelte, nestelte er an seinem Holster und fingerte seine Waffe heraus. »Didi, die hat ’n Messer.« Seine Stimme klang selbst in sei-nen Ohren schrill und fremd. Zu der Frau gewandt schrie er: »Legen Sie das Messer weg, los jetzt, Messer weg.« »Bleib ruhig, Junge.« Aus dem Augenwinkel sah Ulli Didi an der linken Seite der Frau auftauchen. Er sprach ruhig auf die Frau ein. Was er sagte, konnte Ulli nicht verstehen. Er hatte tatsächlich für einen Moment gedacht, dass er sich in die Hose pinkeln würde. Didi pirschte sich vorsichtig an die Frau heran, die sich noch immer nicht gerührt hatte. Als er bei ihr anlangte, griff er langsam nach dem Messer und
nahm es ihr aus der Hand. Schlaff hingen ihre Arme seit-lich am Körper herab. Sie schien nichts von dem, was um sie herum vor sich ging, mitzubekommen. Ulli sah nun, dass die Frau blutüberströmt war, und er rea-lisierte, dass es hätte schiefgehen können. Dass von einem auf den anderen Moment alles hätte vorbei sein können. Erst als die Frau mit einem Krankenwagen weggebracht wurde, ließ seine Anspannung ein wenig nach. Und er beschloss, Sabine noch am selben Tag zu fragen, ob sie ihn heiraten wolle.
Johanna kam gar nicht bis in ihr Büro. Schon im Vorzim-mer wurde sie von ihrer Assistentin Jutta abgefangen. »Sie brauchen sich gar nicht erst den Mantel auszuziehen. Diekmann bittet Sie, gleich zu ihm zu kommen.«»Auch Ihnen einen guten Morgen, Jutta. Hat er mich wirk-lich gebeten?«Jutta lächelte grimmig. »Ja, hat er. Ich konnte es auch kaum fassen. Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Ach, und machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Termine. Die habe ich alle verlegt beziehungsweise abgesagt. Der Fachbe-reichsleiter war zwar nicht gerade begeistert, dass die Be-sprechung abgesagt wurde, aber ich glaube kaum, dass es Sie sehr stört, oder?«Johanna seufzte. Sie hatte vor einigen Monaten eine Do-zentenstelle an der Fachhochschule für den gehobenen Po-lizeidienst angenommen, und anscheinend fiel ihre Art und Weise, die Studenten zu unterrichten, beim Fachbereichs-leiter unangenehm auf. Er hatte für den heutigen Tag um ein erneutes Gespräch gebeten. Allerdings nahm Johanna seine Beschwerden nicht besonders ernst, denn sie wusste, dass er außer ihr niemanden hatte, dem er die psycholo-gische Ausbildung seiner Studenten anvertrauen konnte. Nachdem mehrere Dozenten das Feld hatten räumen müs-sen, hatte er zähneknirschend bei ihr angefragt, ob sie den Job nicht wolle.
»Wenn ich ehrlich bin, würde ich meinen Vormittag lie-ber mit sinnlosem Gelaber bei Fachbereichsleiter Gerdau als mit Sven Diekmann verbringen. Es ist früh am Mor-gen, und ich habe eigentlich keine Lust, mich mit ihm zu streiten.«Jutta tätschelte ihr leise lächelnd die Schulter, als entließe sie ihre Chefin mit dieser Geste. Mit einem letzten Seufzer stellte Johanna ihre Aktentasche neben ihren Schreibtisch und machte sich wieder auf den Weg. Sie musste einmal quer über das weitläufige Polizei-gelände, und eine knappe Viertelstunde später stand sie bei Diekmann in der Tür. Er telefonierte, und als er den Blick hob und sie bemerkte, bedeutete er ihr, Platz zu nehmen. Trotz seiner gefurchten Stirn schien er entspannt und gut gelaunt. Ein paar Minuten später legte er auf und wandte sich beschwingt Johanna zu. »Guten Morgen, Johanna. Du siehst müde aus. Alles in Ordnung?«»Auch dir einen guten Morgen. Du wirkst so heiter. Ist mit dir alles in Ordnung?« Sie lächelte ihn zuckersüß an. Ei-gentlich war das der ideale Start in einen fruchtlosen Streit, aber sie hatte es sich nicht verkneifen können. Allerdings schien Sven heute nicht auf eine Kontroverse eingestellt zu sein. Er erwiderte ihr Lächeln. »Immer einen lustigen Spruch auf den Lippen. Das lob’ ich mir. Möchtest du ei-nen Kaffee?«Sie winkte ab. »Ein Früchtetee wäre mir lieber.«Er sah sie erstaunt an. »Was ist los? Vor ein paar Wochen war es noch heiße Schokolade.«
»Ich versuche nur, das ideale Getränk zu finden. Also, was liegt an? Du wolltest mich sprechen.«»Dann also in medias res.« Er wühlte in einem der Papier-stöße auf seinem gewohnt unordentlichen Schreibtisch und zog einen roten Aktendeckel hervor. »Eigentlich eine ein-deutige Sache, allerdings mit einem klitzekleinen Problem. Aber am besten, ich fange von vorne an. Vergangene Nacht wurde eine unbekannte Frau auf dem Elbwanderweg von einer Streifenwagenbesatzung aufgegriffen. Sie war blut-verschmiert, hielt ein blutbesudeltes Messer in der Hand und schien verwirrt. Sie hatte keine Ausweispapiere bei sich und sprach nicht. Man brachte sie ins Krankenhaus. Dort stellte man fest, dass es sich kaum um ihr Blut han-deln könne, da sie keinerlei Verletzungen aufwies. Der be-handelnde Arzt zog einen Psychiater hinzu, der ihr nach kurzer Untersuchung Haldol verschrieb und wieder ver-schwand. Die Kollegen versuchten über die Vermissten-meldungen mehr herauszufinden, aber Fehlanzeige. Diese Frau wurde entweder von niemandem vermisst, oder es war noch niemandem aufgefallen. Es wurde beschlossen, sie heute in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Heute Morgen dann, gegen sieben Uhr, wurde eine männ-liche Leiche gefunden. Um genauer zu sein, ein Mordopfer. Der Mann wurde erstochen, seine Leiche lag auf der ande-ren Seite der Elbe, nämlich auf dem Parkplatz des Musical-theaters ›Der König der Löwen‹. Zwar fanden die Kollegen keine Tatwaffe, dafür aber etwas Besseres. Unter dem Toten lag eine Handtasche, und in dieser Handtasche lagen eine Eintrittskarte für das Musical und ein Personalausweis.
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