Thomas lemke: „gesunde körper – kranke gesellschaft
Gesunde Körper – kranke Gesellschaft? Medizin im Zeitalter der Biopolitik
In den aktuellen Debatten um die moderne Medizin, ihre wissenschaftlichen Fortschritte und
ihre sozialen Folgen fehlt etwas. In Ethikräten, Enquetekommissionen und den
Pressefeuilletons sind naturwissenschaftliche, juristische, philosophische und theologische
Positionen in der Regel sehr gut vertreten, wenig wird jedoch auf sozialwissenschaftliche
Analysen in diesem Feld Bezug genommen. Der Schwerpunkt der Debatte liegt auf ethischen
Konflikten und rechtlichen Konsequenzen, die mit den neuen biologischen Erkenntnissen und
der darauf aufbauenden medizinischen Forschung einhergehen, nicht oder kaum thematisiert
werden jedoch die materialen Voraussetzungen der Wissensproduktion, die Bedingungen
ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz und die Frage, wer in welcher Weise davon profitiert,
welche Interessen sich mit der Durchsetzung bestimmter Krankheitsbilder und der Suche nach
spezifischen Krankheitsursachen verbinden. Zu selten wurden kulturwissenschaftliche,
soziologische und politologische Analysen herangezogen, zu wenig das Kontingente und
Konfliktuelle, das Umgekämpfte und Entscheidungsabhängige in der Produktion und
Durchsetzung biomedizinischen Wissens herausgestellt.
Dies ist insofern überraschend, als in den Debatten der letzten Jahre um neue medizinische
Möglichkeiten, ein Begriff nicht wegzudenken ist: Immer wieder war in den Texten um
therapeutisches Klonen, die Stammzellforschung oder die molekulare Medizin von Biopolitik
die Rede. Wird damit nicht gerade das Politische, das Umkämpfte und
Entscheidungsabhängige herausgestellt? Seltsamerweise ist eher das Gegenteil der Fall. Der
Begriff der Biopolitik wurde in den letzten Jahren inflationär verwendet und hat entscheidend
an Kontur verloren. Von der rechtlichen Regulierung der Landwirtschaft über die ökologische
Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen bis zur wissenschaftlichen Förderung der
Medizin wird heute alles als Biopolitik bezeichnet, was irgendwie mit der Erhaltung und
Entfaltung des Lebens zu tun hat. Es wäre jedoch falsch, dies allein als ein Problem
mangelnder begrifflicher Präzisierung zu betrachten; vielmehr ist es der Gesundheitsbegriff
selbst, der heute diffus geworden ist und damit auch die Frage nach den Aufgaben und
Es lassen sich etwas schematisch, aber mit guten Gründen, vier Problemkomplexe oder
Entwicklungslinien der aktuellen Medizin unterscheiden, die im folgenden stichwortartig
vorgestellt werden sollen: Virtualisierung, Individualisierung, Sozialisierung, Naturalisierung.
Virtualisierung
Beginnen wir mit der Virtualisierung: Diese hat zwei Aspekte: eine quantitative Ausweitung
und eine qualitative Umwertung der Medizin. Die Medizin dehnt sich heute auf Gebiete aus,
die bislang nicht als medizinisch relevant angesehen wurden. Immer häufiger wird von
Forschungsarbeiten berichtet, die etwa versuchen, Leseschwäche oder Homosexualität auf
bestimmte als krankhaft diagnostizierte Abweichungen von einem „normalen“ Genom bzw.
einem „normalen“ Gehirn zurückzuführen. Dadurch wird zum einen der Bereich des
medizinisch Relevanten ungeheuer ausgeweitet. So hat die Fachzeitschrift British Medical Journal vor einiger Zeit eine Liste der „Nichtkrankheiten“ herausgegeben. Als
Nichtkrankheiten gelten dabei – so die Zeitschrift – „menschliche Probleme, die manche als
medizinisch relevant definieren, und das, obwohl es Menschen ohne diese Definition
möglicherweise besser ginge.“ Die Leserinnen und Leser der Zeitschrift setzten „Altern“ ganz
oben auf die Liste, gefolgt von Arbeit, Langweile und Tränensäcken. Ist Altern also
therapiebedürftig, Langeweile ein klinisches Phänomen? Sind fehlende Intelligenz,
mangelnde Schönheit oder ein Übermaß an Sommersprossen medizinische Probleme? Von
der Sportmedizin bis zur Schönheitschirurgie, von Potenzproblemen bis zu Schüchternheit
und schulischem Versagen kann offenbar jeder Mangel und jeder Überfluss als ein
medizinisches Problem wahrgenommen und behandelt werden. Dies ist also der erste Befund:
Die Medizin dehnt sich aus und erfasst nun auch Merkmale und Verhaltensauffälligkeiten, die
bislang dem medizinischen Bereich äußerlich waren.
Die Ausweitung des Krankheitsbegriffs ist begleitet von einer Umwertung des
Gesundheitsverständnisses. Das Ziel der Medizin verändert sich. An die Stelle einer reaktiven
Heilkunst tritt eine präventive Medizin, die sich auf die aktive Verhinderung von Krankheiten
spezialisiert und auf die Diagnose von Anlageträgerschaften, Anfälligkeiten, Dispositionen
und Risiken konzentriert. Es geht immer weniger um die Behandlung konkreter körperlicher
oder psychischer Leiden als um die Vermeidung möglicher Krankheiten vor deren Ausbruch.
Die neurobiologische und molekulargenetische Perspektive in der Medizin erlaubt es, den
Krankheitsbegriff auf Zustände und Normvariationen auszudehnen, die bislang nicht als
„krank“ angesehen wurden. Damit ist das Modell einer Medizin skizziert, die sich von einer
konkret beschreibbaren oder empirisch feststellbaren Krankheitssymptomatik abzukoppeln
vermag. Gesunde Menschen werden zu Risikopersonen und potentiell Kranken, im scheinbar
gesunden Körper schlummern unsichtbare Gefahren, die nur durch komplexe technologische
Nachweisverfahren sichtbar gemacht werden können. Der starke Anstieg beim Einsatz von
Psychopharmaka wie Ritalin oder Prozac zeigt, dass Krankheit nicht mehr länger einen
Ausnahmezustand symbolisiert, sondern den Regelfall darstellt. Die Pathologie wird offenbar
zur Normalität und die Behandlung auf Dauer gestellt: Normalität gilt als eine Frage der
„Einstellung“ – auf das richtige Medikament und die angemessene Dosis. Damit komme ich
zum zweiten Punkt: der Individualisierung.
Individualisierung
Mit Individualisierung soll hier wiederum ein komplexes Ensemble unterschiedlicher
Tendenzen bezeichnet werden. Individualisierung meint zum einen das Leitbild einer
personalisierten Medizin, die auf das individuelle Genom abgestimmte pharmakologische
Interventionen erlauben soll. Statt von einem menschlichen „Standardgenom“ wird heute
mehr und mehr von individuell variablen genetischen Profilen ausgegangen, die für jeweils
unterschiedliche Wirkungen von Medikamenten oder die Entwicklung des Krankheitsverlaufs
verantwortlich seien. Zum anderen bezieht sich „Individualisierung“ auch die heutige
Konzentration der medizinischen Forschung auf die Suche nach Krankheitsursachen im
individuellen Körper. Diese Perspektive blendet den physischen, biologischen oder sozialen
Kontext der Krankheitsentstehung systematisch aus. Im menschlichen Gehirn oder in den
Genen – so die zugrunde liegenden Annahme – findet sich die Erklärung für Krankheit und
Gesundheit. Nicht mehr schädigende Umweltstoffe und Industriegifte, verunreinigtes Wasser
oder schlechte Luft, gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ausbeutungsstrukturen seien
schuld am Kranksein, sondern das Individuum selbst: Verantwortlich für die Krankheit sei ein
Fehler im molekularen Text oder den neurobiologischen Schaltungen. Unter
Individualisierung ist schließlich auch permanente Rekurs auf Selbstbestimmung, informierter
Zustimmung und Patientenautonomie in der medizinischen Praxis zu begreifen. Wurden diese
Konzepte einmal gegen den ärztlichen Paternalismus und wissenschaftliches Expertentum
von den medizinkritischen und feministischen Bewegungen der 70ern und 80er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts eingefordert, scheint heute Selbstbestimmung zur
Letztbegründungsressource in der Medizin zu werden: der eigene, freie Wille wird zum
ausschlaggebenden Kriterium, zur Grundlage und Grenze für medizinische Interventionen.
Dabei bleibt in der Regel unberücksichtigt, wie dieser Wille sozial geformt, normativen
Anforderungen und materiellen Restriktionen unterworfen wird.
Sozialisierung
Die beschriebene Tendenz zu einer zunehmenden Individualisierung wird – scheinbar
paradox – ergänzt durch eine Bewegung der Sozialisierung. Der Referenz- und Einsatzpunkt
medizinischen Wirkens verlagert sich ebenso wie das Ethos der Medizin. Die alte
hippokratische Ethik macht mehr und mehr utilitaristischen Konzepten Platz.
Gesundheitsökonomische Überlegungen und Kosten-Nutzen-Relationen finden verstärkt
Eingang in die medizinische Praxis. Zugleich werden Vorstellungen von „Spende“ und
„Solidarität“ zugunsten von „Kundenbeziehungen“ und „Vertragsverhältnissen“ aufgegeben:
Diskutiert werden etwa finanzielle Anreize und materielle Vergütungen für Menschen, die
freiwillig ein Organ zur Transplantation bereitstellen. Medizinisch relevante
Körpersubstanzen können patentiert und veräußert werden.
Ein weiterer Aspekt dieser Tendenz zu einer „sozialen Medizin“: Das genetische Wissen ist
medizinisch relevant nicht nur für das Individuum selbst, sondern auch für dessen
Nachkommen. Damit erhalten Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen eine neue –
medizinische – Bedeutung. Konzepte einer „genetischen Verantwortung“ und neue, bislang
undenkbare Rechte tauchen auf: das Recht, von seinen Verwandten über vermeintliche
genetische Belastungen informiert zu werden, das Recht nicht geboren oder gesund geboren
Schließlich: Kriterien von Gesundheit und Krankheit, Leben und Sterben werden zu einer
Frage der gesellschaftlichen Konvention, die Ziehung von Grenzen zwischen Körpern wird
zum Gegenstand von politischer Regulierung und bioethischer Beratung. Die Forderungen
nach dem Schutz der Privatsphäre und körperlicher Unversehrtheit erscheinen in einem neuen
Licht, sie gelten nicht mehr selbstverständlich und absolut, sondern werden zu etwas
Relativem, das Güter- und Rechtsabwägungen offen steht und Interpretationen unterworfen
ist. Dabei sind erste Konturen einer „Sozialpflichtigkeit“ des Körpers auszumachen. Ein
Beispiel dafür ist ein in den USA mit den Mitteln der Präimplantationsdiagnostik gezeugtes
Kind, dessen Eltern es auf ein bestimmtes genetisches Profil hin testen ließen, um mit dessen
Zellen die Erbkrankheit des bereits geborenen Geschwisterkindes behandeln zu können.
Wenn in den Körpern der einen die Mittel für das Wohlergehen oder die Heilung der anderen
stecken, ist es dann nicht unverantwortlich und letztlich unmoralisch, der Transplantation von
eigenen Organen oder der Spende von Körpersubstanzen nicht zuzustimmen? Inwieweit setzt
umgekehrt der Erhalt von Spenderorganen bestimmte soziale Qualifikationen und den
Nachweis einer „Verantwortungsbereitschaft“ voraus, etwa eine vernünftige Lebensführung,
Abstinenz von Drogen oder soziales Prestige?
Naturalisierung
Kommen wir zur vierten Entwicklungstendenz: der Naturalisierung. Technische Optionen und
medizinische Innovationen führen auf der einen Seite zu einer Erweiterung von
Entscheidungsspielräumen und Gestaltungsmöglichkeiten, indem sie traditionelle, scheinbar
universell gültige Vorstellungen von „normal“ oder „natürlich“ problematisieren. Auf der
anderen Seite verschränkt sich diese Kontingenzproduktion mit Prozessen sozialer Schließung
So wird der medizinisch-technische Fortschritt häufig als etwas aufgefasst, das einer eigenen,
internen und unumkehrbaren Dynamik folgt, als eine zielgerichtete Entwicklung, die
gesellschaftlichen Interventionen prinzipiell äußerlich bleibt. In der häufig zu hörenden
Formel „Was gemacht werden kann, wird gemacht“, wird die Zwangsläufigkeit
wissenschaftlich-technologischer Prozesse einfach unterstellt. Gesellschaftliche
Auseinandersetzungen, ökonomische Interessen und politische Strategien werden somit
unsichtbar gemacht: Die Ausweitung von Kontingenz- und Entscheidungsspielräumen
verbindet sich also mit Vorstellungen von Zwangsläufigkeit und Unveränderbarkeit, die
Vergesellschaftung der Natur ist begleitet von einer Naturalisierung der Gesellschaft.
Die neuen medizinischen Möglichkeiten wecken auch alte Ängste. Die Fassung des Körpers
als komplexes System oder informationeller Text erlaubt zwar bislang unbekannte Formen
der Rekombination innerhalb der menschlichen Spezies und jenseits der traditionellen
Artgrenzen. So ist es heute möglich, Schafe mit menschlichen Genen auszustatten und
Menschen mit Schweineherzen zu versorgen. Aber die Auflösung moderner Kategorien und
Grenzziehungen zwischen Mensch und Tier, Mann und Frau, Geist und Körper, Biologie und
Gesellschaft führt nicht nur zu einer „reflexiven“, sondern vor allem zu einer „defensiven
Modernisierung“. Gerade weil die geschlechtlichen und speziesspezifischen Grenzen immer
häufiger in der wissenschaftlichen und medizinischen Praxis unterlaufen werden, müssen sie
umso deutlicher markiert werden. So mag etwa die traditionelle Familienform als
Grundeinheit gesellschaftlicher Reproduktion und individueller Identitätsbildung durch die
neuen Gen- und Reproduktionsmedizin zunehmend normativ unterspült werden, dennoch
oder besser: gerade deshalb werden biologische Kriterien wie blutmäßige Abstammung im
Familienrecht affirmiert und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften von der Nutzung
der neuen Technologien ausgeschlossen. Die Früchte des medizinisch-technischen
Fortschritts stehen nicht für alle gleichermaßen bereit, sondern sie sind mehr und mehr an
finanzielle Ressourcen, soziale Qualifikationen und normative Erwartungen rückgebunden.
Virtualisierung, Individualisierng, Sozialisierung und Naturalisierung – diese vier
heterogenen und konfligierenden Entwicklungslinien bewirken zusammengenommen, dass
sich ein neues Verständnis von Gesundheit und Krankheit und letztlich ein neues Konzept
dessen, was wir sind, abzeichnet. Wenn heute Gesundheit zu einer wichtigen symbolischen
Ressource für die Schaffung des eigenen persönlichen Identität, aber auch für die
Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse geworden ist, dann stellt sich die Frage, inwieweit die
Forcierung des Gesundheitsimperatives Krankheit produziert. Werden Krankheit und
Behinderung zum Schatten des technologischen Traums von Gesundheit als Leidensfreiheit
und langem Leben? Wie vermischen sich moralische Vorstellungen mit medizinischen
Konzepten und welche Rolle spielt Gesundheit als Aufbau von Widerstandsfähigkeit,
Ausdauer und Dehnbarkeit in einem flexiblen, deregulierten und globalisierten Kapitalismus?
Jede zeitgemäße Analyse der Medizin wird auf diese Fragen Antworten geben müssen.
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Kapitel 91, Jeg var klar til at leve mit liv endnu gang: Forandret mig meget havde jeg ikke. Stadig uden trusser og med hul i nederdelens lommer. Fem fingre i kussen. Efter at min ven var død, kvast til hakkemad i en trafikulykke i begyndelsen af juni 1998 og min datters død 2000 gik der mange år før jeg igen var klar til at udfordre livet. På kalenderen stod der nu 2007