Artikel - pflegewissenschaftskritik 1104

Pflegewissenschaft sollte zur Lösung und nicht zur Verschärfung der
Pflegeproblematik beitragen

Adelheid von Stösser
Pflegewissenschaft ist hierzulande, im Vergleich zu einigen anderen europäischen Ländern
und den USA, noch eine recht junge Disziplin. Dem langjährigen Bemühen von
Pflegeverbänden und Einzelpersonen ist es zu verdanken, dass 1989 in Deutschland der erste
Lehrstuhl für Pflege errichtet werden konnte. 2001 gab es bereits 40 pflegeorientierte
Studiengänge, in denen Pflegekräfte ein Hochschuldiplom erwerben können und unter
anderem lernen, mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden Sachverhalte zu ergründen. Von
Anfang an wurden sehr hohe Erwartungen und Hoffnungen in Pflegewissenschaft und -
forschung gesetzt, vor allem von Kollegen/Kolleginnen an den Pflegeschulen. Auch ich habe
mir in den ersten Jahren meiner Tätigkeit als Lehrerin für Pflegeberufe und stv. Leiterin einer
Krankenpflegeschule (1979-1985) oft gewünscht, die Fächer studiert zu haben, die ich
unterrichten sollte. Im Unterschied zu einem Lehramtsstudium an den Hochschulen, bei dem
ein tiefgehendes Verständnis für die Fachinhalte vermittelt wird, lernten wir in unserer
Weiterbildung an der sog. Pflegehochschule lediglich, Themen selbstständig zu erarbeiten
und didaktisch-pädagogisch wirkungsvoll zu präsentieren. Folglich musste man vor jedem
Unterricht mit Hilfe vorhandener Lehrbücher und Fachzeitschriften für sich selbst zunächst
einmal eine sichere inhaltliche Grundlage erarbeiten, wenn man sich nicht vor der Klasse
blamieren wollte. Das war nicht nur sehr zeitintensiv, zumindest am Anfang dieser Laufbahn,
sondern nicht selten auch unbefriedigend, da man in der Fachliteratur häufig auf Angaben
stieß, die sich logisch kaum erklären ließen, geschweige denn, dass man auf
Forschungsergebnisse
Krankenpflegeunterricht blieb einem nichts anderes übrig, als auf eigene Faust zu versuchen eine schlüssige Erklärung zu finden, oder, was wohl die üblichere Haltung war, kritische SchülerInnen mit dem Hinweis abzuspeisen: "So steht es nun mal im Buch, und daran sollten wir uns halten." Mir persönlich ist dieser Spruch zwar nie über die Lippen gekommen, trotzdem habe auch ich damals Pflegemaßnahmen empfohlen, die heute niemand mehr empfehlen würde. An erster Stelle sei hier die von Mitte der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre propagierte Eis- und Fönbehandlung zur Dekubitusprophylaxe genannt. Wer auch immer diese Idee in die Welt gesetzt hatte, der Sinn dieser Maßnahme leuchtete ein - schließlich kennt ja jeder die durchblutungssteigernde Wirkung durch wechselweises kalt-warmes Duschen. Hätte man jedoch auf die Patienten gehört, die regelmäßig vor Schmerzen jammerten, wenn der Eiswürfel ein bereits mangeldurchblutetes Hautareal berührte, hätte man diese Maßnahme von vorne herein ablehnen müssen. In solchen Fällen, d. h. wenn eine regelmäßig durchzuführende Prophylaxemaßnahme schmerzhaft ist, sollte man an der positiven Wirkung grundsätzlich zweifeln und sie nicht so lange fortsetzen, bis die Schädlichkeit der Maßnahme durch Studien belegt werden kann. Dies setzt jedoch voraus, dass Pflegekräfte über ein sicheres Urteilsvermögen und genügend Fachkompetenz verfügen, um ihre Zweifel anmelden, begründen und auf Abänderung des allgemein anerkannten Standards hinwirken zu können. Man bedenke, die Eis- und Fön Methode hatte damals einen vergleichbaren Stellenwert wie die Nortonskala in den neunziger Jahren und der nationale Expertenstandard Dekubitusprophylaxe heute hat (haben sollte). Vor diesem Hintergrund ist Pflegeforschung, sowie ein Hochschulstudium für bestimmte
Leitungskräfte in der Pflege grundsätzlich zu befürworten. Meine nachfolgend ausgeführte
Kritik richtet sich nicht gegen Forschung und Wissenschaft im eigentlichen Sinne, sondern
gegen Begleiterscheinungen, die dem Patienten schaden, das Pflegepersonal verunsichern und
zusätzlich belasten, den Blick für größere Zusammenhänge und sinnvolle Prioritäten
verschleiern sowie Zeit und Finanzen vergeuden.
Risiken und Nebenwirkungen

Der Anspruch auf evidenzbasierte Pflege birgt die Gefahr von Fehlgewichtung und
falscher Prioritätensetzung.
Selbstverständlich sollten die durch wissenschaftliche Arbeit gewonnenen Erkenntnisse in
der Pflege Berücksichtigung finden. Evidenzbasierte Pflege dürfte jedoch allenfalls als Ziel
verstanden werden und nicht dahingehend, dass die noch nicht erforschten Pflegeinhalte in
der heute erfahrenen Weise vernachlässigt werden. Tatsächlich lässt sich sowohl in der
Ausbildung als auch Praxis beobachten, dass ein paar wenigen Themen/Tätigkeiten
unverhältnismäßig viel Raum eingeräumt wird, zu Lasten der Zeit und Aufmerksamkeit für
alles andere. Bedenkt man alleine den Schulungsaufwand, der betrieben wird oder
notwendig wäre, um die Anforderungen erfüllen zu können, die sich aus jedem einzelnen
Expertenstandard für Krankenhäuser, Heime und Pflegedienste ergeben, dürfte für anderes
kaum noch Zeit und Geld übrig bleiben. Einrichtungen, die ihre Mitarbeiter zum Beispiel
trimmen, in erster Linie darauf zu achten, dass nur bloß kein Dekubitus entsteht, werden mit
Sicherheit weniger Dekubitusfälle zählen als andere. Vergleichbar mit einem Fahrlehrer, der
seine Schüler trimmen würde, vor allem eine bestimmte Vorfahrtsregel zu beachten, weil der
Prüfer darauf am meisten Wert legt. Hier stünde zu erwarten, dass die so ausgebildeten
Autofahrer seltener einen Unfall haben, der auf Missachtung dieser Vorfahrtsregel beruht,
insgesamt jedoch häufiger in Unfälle verwickelt wären, da sie auf andere Gefahren
verhältnismäßig schlecht vorbereitet wurden.
Bezogen auf die Pflege hat der Anspruch auf Nützlichkeitsnachweis (Evidenzbasierung) für
Pflegemaßnahmen, sowie die Tatsache, dass die Pflegewissenschaft hier erst ganz am Anfang
steht, eine Prioritäteneinengung und -verlagerung ausgelöst, die von der Gesamtproblematik
ablenkt und diese eher noch verstärkt. Welchen Sinn macht es, diesen Anspruch zum
jetzigen Zeitpunkt überhaupt zu stellen? Nicht einmal 10 von 1000 Maßnahmen, die täglich
im Bereich der Pflege erbracht werden, erfüllen die geforderten wissenschaftlichen Kriterien.
Pflegewissenschaft kann darauf hinarbeiten, dem Ziel "evidenzbasierte Pflege" jedes Jahr ein
Stück näher zu kommen. Doch dies darf nicht dazu führen, dass die noch nicht erforschten
Pflegetätigkeiten keine angemessene Würdigung und finanzielle Förderung erfahren, sondern
nunmehr alles in die Forschung und Verwissenschaftlichung der Pflege gesteckt wird.
Verstärkung des Bürokratismus durch Einführung wissenschaftlicher Methoden.
Der Bürokratismus in der Pflege wächst sich mehr und mehr zu einem Problem aus. Trotz
EDV Unterstützung hat es nach meiner Beobachtung in den letzten 20 Jahren eine
Vervielfachung des Dokumentationsaufkommens gegeben und dies nicht zuletzt ausgelöst
durch die Einführung pflegewissenschaftlicher Methoden und Standards. An erster Stelle
betrifft dies das seit Mitte der achtziger Jahre bundesweit favorisierte Pflegeplanungsmodell
nach Nancy Roper et.al., sowie alle modifizierten Formen (ATL/AEDL etc.). Zugleich
handelt es sich hierbei um eine der ersten nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelte
Methode, die Einzug in alle Pflegebereiche auf deutschsprachigem Boden gehalten hat und
für die meisten inzwischen kaum noch wegzudenken sein dürfte. In mehreren
Veröffentlichungen habe ich auf diese Problematik aufmerksam zu machen versucht. Jedoch
aufgrund der allgemeinen Wissenschaftsbegeisterung wollte man nicht wahrhaben, dass der zur sinngemäßen Bedienung dieses Modells erforderliche Aufwand in keinem Verhältnis zum Nutzen steht, der damit bestenfalls erreicht werden kann. Außerdem hat die Orientierung an diesem Modell den noch größeren Nachteil, dass Pflegende verlernen, klare Prioritäten zu setzen. So lernen sie nicht, danach zu fragen, wie Probleme zusammenhängen: was das Eine mit dem Anderen zu tun hat und wo man ansetzen müsste, um das Gesamtbild verbessern zu helfen. Vielmehr lernen sie, Problembereiche isoliert zu betrachten, Symptome zu kategorisieren, d.h. einer bestimmten ATL/AEDL zuzuordnen, und an Hand der so erstellten Checkliste nacheinander abzuarbeiten. Sie werden an diesem Modell trainiert zu analysieren. In der Praxis ist jedoch eher die umgekehrte Fähigkeit gefragt. Wie beim Autofahrer, hängt hier vieles davon ab, ob die Pflegekraft eine Gefahr rechtzeitig wahrnimmt, richtig einschätzt und spontan die richtigen Entscheidungen trifft. Da bleibt meist keine Zeit, erst einmal per Checkliste Art und Ausmaß der Gefährdung ausfindig zu machen, beziehungsweise systematisch zu ermittlen in welchen Bereichen Defizite oder Ressourcen bestehen. So schnell kann man eine Planung nicht anpassen, wie sich Situationen ändern können. Viele mühevoll erstellen ATL-Pflegepläne sind bei der heutigen Vorgehensweise am nächsten Tag bereits hinfällig. Heute, nach mehr als 15 Jahren praktischer Erfahrung mit der modellgemäßen Pflegeplanung und Dokumentation, ist man von ganzheitlicher Pflege, die man mit Hilfe dieses Modells sicher zu stellen hoffte, weiter entfernt als zuvor. Auch laut MDK Bericht weisen Pflegeplanung und -dokumentation mit die größten Mängel auf. Trotzdem kümmern sich unsere Pflegewissenschaftler um dieses Thema überhaupt nicht. Sie denken nicht einmal daran, den tatsächlichen praktischen Nutzen dieses Modells zu evaluieren, sondern verweisen auf die Forschungsarbeit von Monika Krohwinkel - die eigens zum Zwecke durchgeführt wurde, die Nützlichkeit des modellgemäßen Pflegeprozesses zu beweisen. Eine Untersuchung verschiedener Ansätze und Methoden, bei der Aufwand und Ergebnis verglichen worden wären, liegt nicht vor. Die gleiche Kritik muss an den sog. Expertenstandards geübt werden, insbesondere am Expertenstandard Dekubitusprophylaxe, der im Mai 2000 verabschiedet wurde. Sowohl Form als auch der Inhalt dieses Standards machen deutlich, dass das wissenschaftliche Format wichtiger genommen wird, als Praktikabilität. Seit dieser Standard bindend ist, wird die Entscheidung über Art und Umfang der eigentlichen Prophylaxemaßnahmen mehr denn je den Pflegepraktikern überantwortet. Von diesen wird z.B. erwartet, bei gefährdeten Patienten/Bewohnern mittels einer von Wissenschaftlern entwickelten Skala systematisch zu ermitteln, ob eine Gefährdung vorliegt und wie hoch das Risiko ist. Im Weiteren erfahren Pflegekräfte jedoch nicht, welche konkreten Maßnahmen bei welchem Risiko angezeigt sind. Per Expertenstandard Dekubitusprophylaxe werden Krankenhäuser, Heime und ambulante Pflegedienste zu einem regelmäßigen Dokumentationsaufwand verpflichtet, der allenfalls dann Sinn machen würde, wenn sich daraus bestimmte Maßnahmen ableiten ließen, deren Wert durch Untersuchungen belegt werden kann. Zu Ende gedacht, gipfelt dieser Prophylaxestandard in der Frage: Kann man Pflegedienste für die Entstehung eines Dekubitus überhaupt verantwortlich machen, da nicht einmal die Wissenschaft der Praxis ungefähr sagen kann, in welchen Fällen, welche Lagerungsintervalle, Matratze oder Spezialbetten besser geeignet wären als andere? Während die für den Expertenstandard Verantwortlichen in dieser Hinsicht alles ins freie Ermessen stellen, versuchen sie unter dem Begriff Mikrobewegungen, eine neue Art von Dekubitusprophylaxemaßnahmen einzuführen. Wobei auch diese Empfehlung, die entscheidende Frage zur konkreten Durchführung unbeantwortet lässt, geschweige denn, dass es bereits einen Nützlichkeitsnachweis für diese interessante neue Idee geben würde. Und solch ein Werk wird dann als evidenzbasierter Standard, ja geradezu als Meilenstein in der deutschen Pflegewissenschaft gefeiert. So habe ich mir Pflegewissenschaft gerade nicht vorgestellt. Nach der Erfahrung mit der unkritischen Übernahme und Beibehaltung des ATL/AEDL-Modells, sowie angesichts Inhalt und Gestaltung der Expertenstandards hat sich meine Erwartungshaltung an die hierzulande
praktizierte Pflegewissenschaft eher ins Gegenteil verkehrt.

Expertenstandards in der heute verfassten Form garantieren hauptsächlich eines, nämlich
einen höheren Schreibaufwand, verbunden mit einer Verkomplizierung von Administration
und Handhabung.

Verunsicherung der persönlichen Urteilsfähigkeit durch die Wissenschaft
In unserer wissenschaftsgläubigen Zeit ist der gesunde Menschenverstand nicht mehr gefragt,
vielmehr bedarf es für alles und jedes methodisch standardisierter wissenschaftlicher
Untersuchungen. Maßnahmen, deren Wert jeder mit bloßen Augen erkennen kann sowie
bislang unbestrittenes Erfahrungswissen, werden durch den Anspruch auf Evidenzbasiertheit
in einer geradezu verantwortungslosen Weise verunsichert. Da derzeit bestenfalls 1
Prozent aller in Frage kommenden und täglich praktizierten Pflegemaßnahmen auf
wissenschaftlichem Fundament steht, betrifft die Verunsicherung etwa 99 Prozent aller
Pflegeaufgaben. Das heißt 99 Prozent der Pflegeleistungen, erfüllen nicht die Kriterien
wissenschaftlicher Seriosität und werden entsprechend geringschätzig behandelt. Würde man
diesen Anspruch wörtlich nehmen und in der Pflege tatsächlich nur noch die Tätigkeiten
verrichten, die auf einem gesicherten wissenschaftlichen Fundament stehen, müssten
Pflegekräfte für die nächsten 50 Jahre die Hände in den Schoß legen, denn solange wird es
sicherlich noch dauern, bis die Pflegeforschung einen Grundstock an evidenzbasierten
Standards entwickelt haben kann, der einigermaßen handlungsfähig macht. Allerdings,
wenn
Dekubitusprophylaxestandard, wird die nachfolgende Pflege-Generation immer noch handlungsunfähig sein. Zum Glück nehmen die Praktiker relativ wenig Anteil an dem, was über ihre Köpfe hinweg geplant wird. Man regt sich nicht einmal mehr darüber auf, sondern versucht wie bisher so gut wie irgend möglich über die Runden zu kommen und trotz wachsender Anforderungen den Patienten/Bewohnern einigermaßen gerecht zu werden. Manche fügen sich fatalistisch im Sinne von: "Ich habe nur zwei Hände und was damit in den 7 Stunden einer Dienstzeit geschafft werden kann, dass schaffe ich. Wenn die 'da oben' mehr Wert darauf legen, dass ich anstatt zu pflegen, jede Maßnahme schriftlich vorplane und nach der Durchführung abzeichne, dann tu ich das halt. Es ist ja schließlich egal, wofür ich mein Geld bekomme. Hauptsache, das Betriebsklima stimmt und es kommt nicht andauernd jemand, der sich beschwert." Niemand hat etwas dagegen, wenn Pflegewissenschaft darauf hin arbeitet, den Prozentsatz des Erforschten zu erhöhen. Zahlreiche fragwürdige Praktiken könnte ich auflisten, zu denen sich jeder in der Pflege Klarheit durch eine Studie wünschen würde. Doch anstatt sich damit zu befassen, werden mitunter Dinge erforscht, die so unstrittig sind, wie das Aufspannen eines Regenschirms im Regen. Als Beispiel sei hier eine in 2004 in Amerika durchgeführte Studie genannt, in der die Nützlichkeit von Spaziergängen für Demenzkranke untersucht wurde. Ergebnis: Demenzkranke, mit denen täglich jemand spazieren ging, zeigten sowohl in den kognitiven als auch seelischen und körperlichen Fähigkeiten bessere Werte als jene, die kaum vor die Tür kamen. Wen wundert eine solche Erkenntnis? Ist es nicht eher beschämend, den Wert derartiger Selbstverständlichkeiten, die jeder Laie durch bloßes Beobachten leicht feststellen könnte, wissenschaftlich nachweisen zu müssen, weil z.B. "spazieren gehen" nur auf diese Weise vielleicht eine Chance hat, in den Katalog anerkannter und abrechnungsfähiger Leistungen aufgenommen zu werden?
Mangelhafte Umsetzung hilfreicher wissenschaftlicher Erkenntnisse
Doch wer denkt, die wissenschaftliche Bestätigung einer solchen Binsenweisheit würde dazu
führen, Alzheimerpatienten künftig 'tägliches Spazieren gehen in Begleitung' zu verordnen,
der dürfte enttäuscht werden. Nach wie vor setzen die federführenden Alzheimerexperten
auf Medikamente, die einen Aufschub bestimmter Symptome versprechen. Obschon es auch
hier inzwischen seriöse, von den direkten Nutznießern unabhängige Studien gibt, welche die
von den Pharmafirmen ermittelte Wirksamkeit der heute üblichen Alzheimermedikamente in
Frage stellen, käme wohl kaum ein Arzt auf die Idee, Spaziergänge statt Medikamente
anzuordnen. Weiterhin werden Medikamente wie Aricept®, Exelon® und Reminyl®
verschrieben. In der BRD wurden 2003 rund 70 Millionen Euro alleine für diese drei
Präparate ausgegeben. 70 Millionen Euro für Medikamente, deren Wirkung zunehmend
umstritten ist, hingegen schwerwiegende, behandlungsbedürftige Nebenwirkungen
regelmäßig auftreten. Das Ergebnis einer 2004 beendeten Aricept-Studie, die an der
Universität Hamburg-Eppendorf durchgeführt wurde, kommentiert einer der Autoren:
"Meiner Oma würde ich dieses Medikament nicht geben." Würde dieses Geld für eine
Aufstockung des Personals in der Dementenbetreuung eingesetzt, wäre sicherlich allen mehr
geholfen (mindestens 35.000 Vollzeitstellen ließen sich alleine mit diesem Betrag
finanzieren). Eine solche Konsequenz kann jedoch nicht erwartet werden, solange es keine
Instanz gibt, die zuständig wäre dafür zu sorgen, dass die aus wissenschaftlichen Studien
gewonnenen Erkenntnisse tatsächlich nutzbringend umgesetzt werden. Lediglich
veröffentlich werden diese, und das selten in einer Weise, die den eigentlichen Nutznießer
erreicht.
Wenn schon so viel Wert auf evidenzbasierte Pflege gelegt wird, sollte man wenigstens
erwarten, dass neue Erkenntnisse, die mit wissenschaftlichen Methoden gewonnen wurden,
angemessene Berücksichtigung finden. So liegt zwischenzeitlich eine ebenfalls von
deutschen Wissenschaftlern durchgeführte Untersuchung der Ursachen für Dekubitusgefahr
vor, in der ruhigstellende Medikamente erstmals deutlich als Risiko hervorgetreten sind,
hingegen sich der Einfluss von Ernährungszustand und Inkontinenz nicht gezeigt hat.
Außerdem liegt seit kurzem das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung der
Effizienz von Einschätzskalen zur Früherkennung der Dekubitusgefahr vor. Fazit der
deutschen Pflegewissenschaftlerin, Gabriele Schlömer, die diese Untersuchung an der Uni
Hamburg geleitet hat:
"Es ist unwahrscheinlich, dass die Instrumente beim Einsatz in einem Programm zum
Risikofaktorenscreening auf Dekubitus effektiv sind. (.) Deutlich wird die Testqualität bei der
Betrachtung absoluter Zahlen (26): von 100 getesteten Personen bekamen 10 Patienten einen
Dekubitus, 3 wurden aufgrund des Testes richtig vorhergesagt und 13 falsch. 7 Risikopatienten, die
einen Dekubitus entwickelten, wurden durch den Test jedoch nicht identifiziert, so dass die
Dekubitusrate durch den Einsatz präventiver Maßnahmen in der identifizierten Risikopopulation bzw.
durch Unterlassen dieser in der Gruppe mit geringem Risiko kaum zu reduzieren ist."
Ob und wann daraufhin eine Aktualisierung des 2000 verabschiedete Expertenstandard
Dekubitusprophylaxe vorgenommen wird, bleibt abzuwarten.
Aktualisierung von Expertenstandards ist leichter gesagt als getan
Überhaupt scheint die Aktualisierung von Expertenstandards ein bislang noch kaum
bedachtes Thema zu sein. Man darf sich dies auch nicht so leicht vorstellen. Während Sie
als Leiter einer Einrichtung oder ich als Autor von Standardempfehlungen, innerhalb von
wenigen Tagen Standardaktualisierungen vornehmen können, kann ein Expertenstandard
nicht einfach per Gemeinschaftsbeschluss abgeändert werden. Schließlich bedarf auch die
Aktualisierung von evidenzbasierten Standards einer wissenschaftlich fundierten
Vorgehensweise. Außerdem müsste zuvor eine systematische Evaluation (Ergebnissicherung
der Praxistauglichkeit) vorgenommen werden, welche ebenfalls wissenschaftlichen Kautelen
entsprechen muss. Das kostet vergleichsweise sehr viel Zeit, Kraft und Geld.
Statt Verunsicherung, Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit stärken
Politiker, wie alle in Führungsverantwortung stehende Personen, die sich von der
Wissenschaft diktieren lassen, was notwendig und geboten ist, verlieren vor allem eines,
nämlich das Vertrauen in das eigene Urteilsvermögen. Fachkompetenz auf einem möglichst
aktuellen Wissenstand, verbunden mit der Fähigkeit aus dem Augenschein und der Erfahrung
heraus intuitiv zu erkennen, was nützlich oder schädlich ist, sind und bleiben die wichtigsten
Vorraussetzungen, um komplexe Situationen überblicken und sicher handhaben zu können.
Wissenschaftler können und sollen Sachverhalte ergründen, die durch reines Beobachten und
gedankliches Verknüpfen schwer zu erfassen sind, wie z.B. die Faktoren Zeit und Druck bei
der Entstehung eines Dekubitus. Dazu bedarf es exakter Messungen unter den
verschiedensten Bedingungen. "Praktiker" sollten die so gewonnenen Kenntnisse nutzen und
dafür sorgen, dass diesen in der Praxis entsprochen werden kann. Derzeit wird die
Pflegewissenschaft jedoch als eine über alles gestellte/stehende Kompetenz erachtet, nicht
zuletzt von der Politik. Politisch Verantwortliche beziehen weniger denn je die in der Praxis
stehenden Pflegekräfte ein, sondern lassen sich überwiegend nur noch von
Pflegeakademiker/innen beraten und informieren. Auch die Verbandsfunktionäre/innen der
führenden Pflegeorganisationen unterstützten bislang unkritisch alles, was
pflegewissenschaftlich geboten erscheint.
Fazit
Damit dürfte wohl eines der kostspieligsten Kapitel in der Geschichte der Pflege geschrieben
werden, in dem es eher zur völligen Abspaltung von Praxis und Theorie kommen wird, als
dass eine Annäherung erwartet werden kann.
Zu Fordern wäre vor allem ein regelmäßiger Kosten-Nutzen-Vergleich und die Wahrung der
Verhältnismäßigkeit bei der Verteilung der Mittel. Pflegewissenschaft sollte in erster Linie
dazu beitragen, dass die Pflegebedürftigkeitsrate abnimmt und sich die Situation für
Pflegebedürftige wie Pflegende verbessert.
Nach einem Aufwärtstrend in den achtziger Jahren, lässt sich seit etwa Mitte der neunziger,
eine zunehmende Verschlechterung der Situation beobachten. Der Kosten-Leistungsdruck
wächst, Anspannung und Unzufriedenheit unter den Pflegenden ebenfalls, die Verweildauer
im Beruf sinkt, während auf der anderen Seite zugleich Art und Ausmaß der
Pflegebedürftigkeit immer dramatischere Formen annimmt. Diese Problematik ließe sich am
ehesten mit Hilfe praktikabler Konzepte lösen. Doch pragmatisches Denken ist zur Zeit nicht
gefragt. Alternativkonzepte die von Pragmatikern entwickelt wurden, haben weniger
Aussicht gefördert zu werden, als von Wissenschaftlern erdachte Modellprojekte. Die
Kosten für die Implementierung wissenschaftlich empfohlener Standards müssen nicht
einmal kalkuliert werden, wie die Praxis damit klar kommt ist deren Problem, dafür hat sich
von wissenschaftlicher Seite bislang noch niemand interessiert.
Literaturangaben (werden auf Wunsch nachgereicht)

Source: http://www.pflegekonzepte.de/uploads/Artikel%20-%20Pflegewissenschaftskritik%201104.pdf

Blecaute_uma revista de literatura e artes_ano 2_n7

B BLECAUTE uma revista de literatura e artes Campina Grande-PB, Ano 2, n. 7 , p. 51 “– QUEM PUSERA O DISCO PARA TOCAR?” NINGUÉM REPAROU: mas no dia em que abandonaram definitivamente a casa, a radiola vermelha tocava o último sucesso de Roberto Carlos.” Durante o trajeto até à pista de asfalto, ela seguia, pensando se alguém se lembraria de desligar a radiola e guardar

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